Eine andere Arbeit am anderen.
Über Kontingenz und Kupelwiesers Kunst

Rainer Metzger

1. Andersheit, allgemein

Es gibt eine Andersheit, die hat nichts Korrektes. Im Gegenteil, sie ist ein Skandalon. Es ist eine Andersheit, die lauert, die droht, die sich als Verdacht einstellt, dass das, was man tut, auch jederzeit eben anders sein könnte. Während man heutzutage auf Dissidenz schwört, auf die eine, spezielle Andersheit, die man haben, sein, verkörpern will, weil es etwas Politisch-Moralisches wie Opposition und Widerstand meint, blickt man von dieser anderen Andersheit gerade weg. Sie ist die viel radikalere Alterität, denn sie meint einen Zustand, in dem das Prinzip Alternative den Umgang mit der Welt sowieso und von vornherein dominiert. Dissidenz umgibt sich mit Notwendigkeit. Kontingenz dagegen, die andere Andersheit, steht dafür, dass nichts notwendigerweise so ist, wie es ist.

Für einen Künstler ist diese Kontingenz von besonderer Tragweite, denn natürlich sollen seine Hervorbringungen das Signum des Speziellen, Dezidierten, Intendierten und insgesamt des So-und-nicht-anders-Möglichen tragen (vielleicht ist die Konjunktur des Dissidenten gerade im Kunstbetrieb daraus zu erklären, dass es das Apriori der Andersheit einwattiert in die Versicherung, es absichtlich zu meinen). Kunst lebt von der Kontingenzbannung, und wenn Kontingenzbannung das gleiche ist wie Reduktion von Komplexität, dann ist es das Metier der Kunst, diese Reduktion auf die geschickteste, virtuoseste, nachvollziehbarste, mit einem Wort originellste Weise zu betreiben.

Durch diese Originalität, deshalb funktioniert der Mechanismus der Kunst so gut, wird zugleich Komplexität wieder hergestellt, denn die originellste Komplexitätsreduktion ist zugleich eine besonders neue, besonders ungewöhnliche. Die Komplexitätsreduktion, wie die Kunst sie vorführt, trägt also unmittelbar wieder zu einer Vermehrung von Komplexität bei, und die Parforcetour des Ästhetischen dreht eine weitere Runde: Als Werke, als Phänomene mithin, machen die Kunst-Werke die Welt komplexer; als Kunst dagegen, als jene Dinge, die den Anspruch tragen, Kunst zu sein, reduzieren die Kunst-Werke die Komplexität, denn sie stehen dafür ein, dass sie notwendig sind, unabdingbar und fraglos richtig.

Kunst und Kontingenz bilden einen Komplementärkontrast. Gerade im Gegeneinander finden sie zusammen, und wenn es keine andere Instanz gibt, die wie die Kunst in den letzten 200 Jahren so vorbehaltlos für Positives und Menschheitsbeförderndes stand, mag dieser durch und durch beglückende Eindruck an der unermüdlichen Arbeit am Chaos, am Zufall und an der ständig lauernden Andersheit liegen, die man ihr dabei zugute hält. Kunst ist, ganz allgemein, Arbeit am Chaos. Bedarf es einer Spezifizierung für diese generelle Arbeit, dann bietet sich als bester Beleg ein Oeuvre an, das nach Bildhauerei aussieht oder auch nach Fotografie, das aber tatsächlich und vor allem pure Conceptual Art ist. Damit sind wir bei Hans Kupelwieser.

2. Zufallsproduktion

Kupelwiesers Kunst rankt sich um Methoden, den Zufall als Produzenten einzusetzen (eine Antwort auf die Frage, ob der Zufall auch als Produkt funktioniert, als buchstäbliches Zufallsprodukt also, soll im letzten Abschnitt nachgeliefert werden). Der Zufall erfährt seine Legitimation durch Verfahren. Durch genuin bildnerische Verfahren. Listen wir im folgenden deren vier auf:

Methode und Motivik der Fotografie:
Das Foto verdankt seine Spezifika dem Ad Hoc seiner Entstehung: der Anwesenheit des Apparats und des Arrangeurs, der Situation der Aufnahme, den konkreten Einwirkungen des Physikalischen, von Licht und Sensibilität der beteiligten Materialien. In seiner Automatik, die jenseits eines Bewusstseins und einer Absicht abläuft, hält das Foto fest, was eben da ist, und das ist der stete Fluss des Lebens. Als lieferte die Fotografie nicht sowieso die Sinnbilder par excellence für das Zeitalter der Kontingenz, das Moderne heißt, bringt Kupelwieser die Radikaldynamik steter Veränderung auch motivisch zur Kenntlichkeit. In einem ebenso bizarren wie logischen Einfall fixiert Kupelwieser den steten Fluss des Lebens in seiner elementaren Erscheinung schlechthin: den "Swarm Paintings", ihrem Titel widersprechend Fotos, die Myriaden von winzigen Fischen ihre lichtbildnerische Versteinerung verleihen, ein Bild der Menge von brachialer Eindeutigkeit und unübersehbarer Vielfalt.

Methode und Motivik des Fotogramms:
Die Perfektionierung, die das fotografische Prinzip seit seiner Etablierung erfuhr, lief über das Technische. Das berühmte "You Press the Button, We Do the Rest" von Kodak etwa gab die Versicherung ab, alles Unliebsame, und auch dies wäre nur ein anderes Wort für alles Kontingente, auszuschalten, zu eliminieren durch die Exaktheit der Apparatur und ihrer Delegierung an den Profi. Wenn man eben diese Apparatur auf ein Minimum reduziert, auf die schiere Versuchsanordnung, die ein physikalischer Vorgang braucht, um überhaupt auf ein Experiment, das heißt überhaupt auf Wiederholbarkeit hin angelegt zu sein, dann läßt man auch dem Zufall mehr Spielraum. Soviel Spielraum wie nur möglich läßt man ihm, arbeitet man mit dem Prinzip Fotogramm. Und weil auch hier die Methode durch das Motiv getoppt werden soll, werden bei Kupelwieser ausgerechnet Spaghetti der Abbildung würdig, Spaghetti, die sich auf der Unterlage drehen und winden, wie sie gerade zu fallen und zu liegen gekommen sind. Das Unikat des Fotogramms hält die Singularität der irgendwie gekrümmten Nudel fest, gekrümmt in aller Einmaligkeit nach den Launen des Zufalls.

Methode und Motivik des Spiegels
Der Spiegel zeigt, eindeutiger noch als das Foto, die Welt nach Indizien. In ihm kann sich nur abbilden, was tatsächlich vor ihm stattfindet, und auch nur solange es vor ihm stattfindet. Der Spiegel liefert der Kontingenz das perfekte Medium, indem er verdoppelt, was sowieso der Fall ist: Jederzeit wird das, was sich vor ihm abspielt, anders sein; damit ist auch das, was sich in ihm abspielt, immer anders. Und wiederum, so als würde dies nicht ausreichen für eine Trägerschaft des Zufalls, arbeitet Kupelwieser am Motiv. Der Spiegel, wie er ihn einsetzt, ist konkav, er zerrüttet die Visualität der Erscheinungen und versetzt sie in Kürzestzustände der Verzerrung und Deformierung. Das Spiegelbild verändert sich also nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Personen oder Gegenständen vor ihm auftritt; es verändert sich auch durch die notwendige Vielgestaltigkeit des reflektierenden Materials selbst, das niemals ganz glatt ist und der Isomorphie der Oberfläche die Polymorphie des Optischen hinzufügt.

Methode und Motivik des Computers
Mit dem digitalen Zeitalter ist das Faible für das Chaos erst so recht in gang gekommen. Seither geht man davon aus, dass ein Schmetterling in der Mongolei für Wirbelstürme im Golf von Mexico verantwortlich sein kann, denn es lassen sich nun Wahrscheinlichkeiten hochrechnen, die so klein sind, dass sie von der puren Komplexität, und das heißt prinzipieller Gleichwahrscheinlichkeit, nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Computer fungiert als Zufallsgenerator, und auch hier hilft Kupelwieser der Methode der Chaosproduktion auf die Sprünge, indem er beim Motiv ansetzt. Dass fünf bis zwanzig vom Rechner zufällig gesetzte Punkte, die ebenso zufällig miteinander verbunden werden, ein geometrisches Gebilde ergeben, das sich keiner Intention verdankt, liegt auf der Hand. Doch auch das Fanal aller künstlerischen Absicht, die Abschlusserklärung, die finale Redaktion läßt sich mit Gleichgültigkeit überziehen, und so gerät die Signatur, das "Kupelwieser" der eigenen Individualität in die Mühlen des Computers. Heraus kommt ein Bild, in dem die Unterschrift zugleich ex- und implodiert, sich über das Medium legt als einzige Botschaft und zersplittert, facettiert, kristallisiert ist in die Unlesbarkeit Tausender von farbigen Partikeln.

3. Redimensionierung

Kupelwieser gilt als Bildhauer. Das bedeutet, dass er plastisch, skulptural, jedenfalls dreidimensional arbeitet. Oder er gilt als Fotograf, und das heißt natürlich, dass er vornehmlich mit zwei Dimensionen beschäftigt ist. Ohne uns lang bei einem etwaigen Widerspruch, der sich daraus ergäbe, aufzuhalten, legen wir unter dem Blickwinkel einer Arbeit am Zufall folgendes Resultat zugrunde: Kupelwieser ist Konzeptualist, und er arbeitet an der Redimensionierung. Er arbeitet an dieser Redimensionierung, um an der Kontingenz zu arbeiten. Redimensionierung ist, das sollen zwei Beispiele im folgenden erläutern, sowieso die Paradestrategie, um bildnerisch dem Verdacht beizukommen, alles könnte eben ganz anders sein.

Der Fingerabdruck:
Die Daktylografie ist, seit sie 1901 von Scotland Yard eingeführt wurde, das Verfahren schlechthin, um einen Delinquenten dingfest zu machen. Vorher hatte man Schädel vermessen und erkennungsdienstliche Fotos angefertigt, doch erst der Prozeß der Entpiktoralisierung, den der Fingerabdruck vollzog, sollte sich als so wirkungsvoll erweisen, dass er bis heute verbindlich ist. In diesem Prozess wird eine Existenz, ein individuelles Leben auf die zweidimensionale Spur zurückgeführt, die es beim Hantieren mit Oberflächen hinterläßt. Der Prozess hat zwei Komponenten: Er emanzipiert sich zum einen von einem Bild, einem Abbild von Realität, das in seiner seiner Eigenschaft, über Ähnlichkeit zu funktionieren, zuviel Unspezifisches, zuviel Rauschen erzeugt; gerade diese Kontingenz galt es zu vermeiden. Zum anderen folgt der Fingerabdruck der Einsicht in die Unmöglichkeit der Generalisierung; als Markierung steht er für die spezielle Präsenz dessen, der hier seine Spur hinterließ; gerade im Verzicht auf Verallgemeinerbarkeit ist der Fingerabdruck äußerst exakt. Kontingenz wird gemindert und forciert in einem. Als Bild kann der Fingerabdruck seine Stellvertreterfunktion ausschließlich für eine einzige Person ausüben und ist damit Signum einer Welt als schlichter Summe ihrer, in diesem Fall personalen, Einzelerscheinungen. Zugleich ist der Fingerabdruck von eklatanter Präzision; er kann nur auf einen einzigen Sachverhalt verweisen, aber dieser Verweis hat dann sogar Beweiskraft. Für jedes Phänomen braucht er eine eigene Darstellung. Dies ist höchste Kontingenz. Und er führt vor, dass Eindeutigkeit herrschen kann zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Dies ist höchste Signifikanz.

Das Ready made:
Einer historischen Situation entsprechend, die, mit Einstein, die Zeit als vierte Dimension entdeckt hat, übt sich Marcel Duchamp im Zweifel an den Beschränkungen der Objektwelt. Medium dieses Zweifels ist das Ready made. Es gibt, so Duchamps Überzeugung, eine Realität auf einem höheren, weil mehrdimensionierten Niveau, und die hiesigen Erscheinungen verhalten sich zu ihr gleichsam als Projektionen: "Jeder gewöhnliche dreidimensionale Körper, Tintenfaß, Haus, Fesselballon, ist diejenige Perspektive, die von zahlreichen vierdimensionalen Körpern in die dreidimensionale Umgebung getragen wird", notiert er seinen Aufzeichnungen. Diese Projektion, diese Reduktion auf eine niedrigere Ebene, diese Redimensionierung also funktioniert wie ein Schatten: "Der Schatten, den eine vierdimensionale Figur in unseren Raum wirft, ist ein Schatten in drei Dimensionen". Die hiesige Welt als Schattenwelt: Nach Duchamps eigenen Intentionen ist das Ready made also weniger ein Reflex auf den Warenverkehr als dessen Dementi, ist es weniger das monumentalisierte Ding als das Dokument des Zweifels an ihm, und ist es weniger Beleg für diese Wirklichkeit als Relikt einer anderen. Das Ready made liefert damit seinerseits Kontingenzbannung: Die physikalische Relation zwischen Zeichen und dem, wofür es steht, signalisiert von vornherein Notwendigkeit; ein Schatten kann nur sein und muss zugleich sein, wo ein Objekt existiert, das ihn wirft.

4. Andersheit, speziell

Es gibt eine Arbeit in Kupelwiesers Ausstellung, bei der er zeigt, dass Redimensionierung zwar meistens, aber nicht immer Rückdimensionierung heißt. Bei „Blase in die Ecke", aus der Werkserie „Gonflable“ jedenfalls wird das Verfahren einer Inversion unterzogen und eine Qualität des Plastischen hinzugewonnen. Im Wortsinn aufgeblasen werden die Aluminiumbleche, das glatte, flache, gleichmäßige Material erfährt im Blow Up seine Erweiterung ins Dreidimensionale und hängt nun als buchstäblich überdimensionierter Ballon unter freiem Himmel. Die Fährnisse der Herstellung und die Eigenheiten des Gelieferten fügen sich zur vielleicht eindeutigsten Inszenierung von Kontingenz, die in der Neuen Galerie präsentiert wird. Wie das Gebilde aussieht, kann niemand vorher genau wissen, und dass es so ist, wie es geworden ist, verdankt sich abermals dem großen Produzenten Zufall.

Im allgemeinen aber nimmt Kupelwieser an den Dingen eine Dimension weg. Dass sich die plastische Realität der Welt auf die Fläche drückt, begegnet man ihr mit dem fotografischen Verfahren, sei es mit aufwendiger Apparatur oder dem schlichten Geltenlassen der Physik, ist evident. Beim Spiegel ist es genauso, und in Kupelwiesers vielleicht aufsehenerregendster Volte sind es Möbel, die plastischen Objekte schlechthin, deren Voluminität sich daraus ergibt, dass sie Körper sind, weil sie für Körper sind, derer nämlich, die sie benutzen. Es sind es also Möbel, die mit Fläche überzogen werden. Sei es der Einbau der vielgestaltigen Gebilde in die geometrische Eindeutigkeit von Würfel und Quader oder sei es der Einzug einer zusätzlichen Ebene, die alles unter ihr Liegende einfach verdeckt. Die Fläche ist ein Gleichmacher, denn sie setzt der Kontingenz dessen, was es alles gibt, die Monotonie, die Monomanie, die Monokratie des Ein-Heitlichen entgegen.

"Kupelwieser nimmt an den Dingen eine Dimension weg. Und sei diese Dimension selbst nur die zweite. Eine von Kupelwiesers vertracktesten Arbeiten hat einem Text, der diese Arbeit wiederum selbst zum Thema hat, die Fläche, auf der er gemeinhin zu lesen ist, entwendet. Das Karree des Papiers ist verschwunden, und die Buchstaben werden gezwungen, selbsttragend zu sein. Das metallene Gefüge der Lettern hält sich auf wundersame Weise in der Fasson, die Eindimensionalität der Striche und Punkte schlägt um in die Körperlichkeit des Skulpturalen."

Kupelwieser gibt dem Zufall eine ausgiebige Plattform. In der Redimensionierung aber, die sein Werk ebenso ausgiebig betreibt, wird jene Reduzierung eingeführt, jene Reduktion von Komplexität, die dem Skandalon Andersheit die Zunge zeigt. Der Zufall ist stets Ausgangspunkt seiner Bemühungen. Er ist Produzent. Aber er ist nicht Produkt, im Gegenteil, das Resultat ist und soll sein das wie auch immer geordnete, geformte, organisierte Ding.

Dass das Bemühen um Ordnung die Welt nur durcheinander bringt, ist der Kernsatz des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes. Die Entropie ist eine Grundkonstante. Jede Reduktion von Komplexität sorgt für neue Komplexität. Nichts zu machen. Daran kann auch die Kunst nichts ändern. Und doch ordnet, formt und organisiert Kupelwieser die Dinge, mit denen er Kunst macht. Er läßt den Zufall sein Werk verrichten. Dabei aber wird dieser Zufall auch unschädlich gemacht durch seine Verwiesenheit auf jene mindere Dimension, die er in der Realität gerade nicht hat. Indem Kupelwieser ihn auf die Bilder und in die Bilder verpflichtet, wird er gewissermaßen kaserniert, in die Fasson gebracht durch die Geste der Kontingenzbannung. Kontingenz läßt sich nicht ungeschehen machen. Doch sie läßt sich reduzieren, im Einzelfall und im steten Wissen um das Augenblickliche und jederzeit Prekäre dieses Arrangements. Kupelwieser zeigt also weniger, wie man den Zufall inszeniert, als eine Möglichkeit, ihn für den glücklichen Moment in den Griff zu bekommen. Die Reduktion von Komplexität betrifft nicht die Welt; zu glauben, die Welt würde einfacher, nur weil man ihr mit Mitteln der Vereinfachung begegnet, ist Sache der Dummköpfe und (was das selbe ist) der Reaktionäre. Die Reduktion von Komplexität betrifft das Verfahren, mit der Welt umzugehen. Bedient man sich dieser Verfahren triftig, kann dann vielleicht doch nicht alles zu jedem Moment immer auch anders sein. Kupelwiesers Kunst läßt aufblitzen, wann solche Momente, in denen es nicht anders sein kann, gekommen sind.

aus: Hans Kupelwieser, Katalog, Neue Galerie Graz 2004, Hatje Cantz